Expertentipps für den Arbeitsalltag mit MS (Teil 2)

Menschen mit einer chronischen Erkrankung wie MS müssen sich im Arbeitsleben ganz besonderen Herausforderungen stellen. Der Obmann des Vereins ChronischKrank Mag. Jürgen Ephraim Holzinger gibt wichtige Ratschläge dazu, wie man auch mit MS gut durch den Arbeitsalltag kommt.
Im ersten Teil des Interviews hat Mag. Holzinger bereits diverse Unterstützungsangebote für chronisch kranke Personen zum Thema Arbeit verraten und wichtige Fragen zum Behindertenpass beantwortet. In diesem erfahren Sie, wie bedeutsam es ist, sich Zeit für Erholung zu nehmen und was beim Beantragen von Rehabilitationsmaßnahmen wichtig ist.
Welche Tipps haben Sie für Menschen mit MS, um den Arbeitsalltag besser zu meistern?
Ganz wichtig ist, eine gute Balance zwischen Arbeit und Erholung zu finden. Als chronisch kranke Person muss man besonders darauf achten, dass man sich nicht übernimmt. Also sollte man sein Arbeitsumfeld möglichst so gestalten, dass man sich bei Bedarf Auszeiten nehmen kann.
Wir merken immer wieder, dass sich viele überfordern, weil sie mit ArbeitskollegInnen mithalten wollen. Mit einer chronischen Erkrankung muss man aber besonders gut auf den Körper und die eigenen Grenzen achten, weil sich sonst die Beschwerden leicht verschlechtern können. Wenn man merkt, dass man eine Auszeit braucht, ist es also wichtig, rechtzeitig und regelmäßig Reha-Maßnahmen zu beantragen. Auch sollte man freie Tage ganz bewusst zur Erholung nutzen. Wir vom Verein ChronischKrank helfen Betroffenen mit unseren PhysiotherapeutInnen dabei, zu einer besseren Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu finden.
Wie unterstützen Sie Betroffene beim Beantragen einer Rehabilitation?
Aktuell besteht das Problem, dass etwa 70 Prozent aller gestellten Reha-Anträge in Österreich abgelehnt werden. So kommen viele nicht zu der Rehabilitation, die sie benötigen. Dadurch kann es passieren, dass arbeitswillige Personen nicht mehr berufsfähig sind und Notstandshilfe beziehen müssen, nur weil ihnen keine Reha genehmigt wurde. Damit in Zukunft weniger Anträge abgelehnt werden und mehr chronisch kranke Personen langfristig arbeitsfähig bleiben, wäre also dringend eine Reform nötig. Dafür setzen wir uns in der Politik ein. Außerdem unterstützen wir Betroffene dabei, Reha-Maßnahmen genehmigt zu bekommen. Zu diesem Zweck vermitteln wir in ganz Österreich Rechtsanwälte, die in diesem Bereich erfahren sind.
Macht es überhaupt Sinn, eine Reha zu beantragen, wenn so viele Anträge abgelehnt werden?
Wenn man Rehabilitation benötigt, sollte man trotz der hohen Ablehnungsquote auf jeden Fall einen Antrag auf Reha stellen. Denn andernfalls erhält man nach einem Jahr im Krankenstand kein Krankengeld mehr und für viele Betroffene folgt dann die Kündigung und Aussteuerung. So verlieren diese Personen dann ihre e-Card und ihr Einkommen. Wenn das passiert, empfehle ich: Gehen Sie zum AMS und unterschreiben Sie, dass Sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, auch wenn sie eigentlich aufgrund der Erkrankung nicht arbeitsfähig sind. Denn nur dann haben Sie Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe.
Was kann man tun, wenn ein Reha-Antrag abgelehnt wird?
Wird der Antrag auf eine Reha-Maßnahme abgelehnt, besteht noch die Option, eine Klage einzureichen. Dabei sollte man jedoch nicht alleine vorgehen – denn man benötigt Rechtsanwälte, die sich in diesem Bereich gut auskennen. Wir arbeiten mit über 50 Rechtsanwaltskanzleien österreichweit zusammen, die Betroffene vertreten und helfen, passende Anwälte an Betroffene zu vermitteln.
Wo können sich ArbeitgeberInnen, die chronisch kranke Personen beschäftigen, über Hilfsangebote informieren?
Es gibt diverse Unterstützungsmöglichkeiten für ArbeitgeberInnen, die Mitarbeitende mit einer Einschränkung beschäftigen. Darüber kann man sich nicht nur in unserem Verein informieren – in einigen Bundesländern gibt es beispielsweise als kostenlosen Service für UnternehmerInnen auch das Betriebsservice. Das kommt zu den ArbeitgeberInnen und berät sie individuell zu Unterstützungsmöglichkeiten für das Unternehmen – diese reichen von Hilfsmitteln über Förderungen bis hin zu Lohnzuschüssen. Auch das AMS bietet eine solche Beratung an.
Denken Sie, dass die Corona-Zeit hilfreiche Schritte am Arbeitsmarkt für Menschen mit chronischen Erkrankungen gebracht hat?
Ja, auf alle Fälle. Wir sehen, dass alles flexibler wird. So müssen etwa durch das Homeoffice nicht mehr alle immer in die Firma fahren. Auch digitale Angebote wie Zoom oder Skype haben sich stärker verbreitet und ersparen viele Wege, da sie etwa ermöglichen, Konferenzen auch online abzuhalten. Gerade für chronisch kranke Personen sind diese Möglichkeiten häufig eine Erleichterung und einiges davon wird sicher erhalten bleiben.
Worauf sollten MS-Betroffene im Home-Office achten?
Wir sehen häufig, dass Leute im Homeoffice mehr arbeiten – denn oft machen sie auch am Abend weiter, wo sie sonst schon Freizeit hätten. Man muss also auch hier auf die Balance zwischen Arbeit und Freizeit achten.
Außerdem sollte man die eigene psychische Gesundheit besonders gut im Auge behalten. Denn gerade im Zusammenhang mit der Arbeitswelt treten immer häufiger psychische Erkrankungen auf. Durch das Homeoffice gehen viele seltener raus und in der Corona-Zeit haben Studien gezeigt, dass psychische Erkrankungen durch das Social Distancing zugenommen haben.
Was kann man tun, wenn man durch die Arbeit stark psychisch belastet ist?
In diesem Fall sollte man nicht davor zurückschrecken, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Leider können es sich aber viele nicht leisten, Psychotherapie privat zu bezahlen oder müssen lange auf Therapieplätze warten. Daher setzen wir uns dafür ein, dass die Psychotherapie auch auf Krankenschein möglich ist und mehr Therapieplätze geschaffen werden. Es ist höchste Zeit, dass psychische Erkrankungen denselben Stellenwert wie physische Erkrankungen erreichen.
Was wären also die wichtigsten Dinge, die sich ändern müssten, um chronisch kranken Personen das Arbeitsleben zu erleichtern?
Am wichtigsten wäre wie gesagt die Rehabilitations-Reform, damit chronisch erkrankte Menschen länger erwerbstätig bleiben können. Denn wenn man immer wieder rehabilitiert wird, lässt sich die chronische Erkrankung eher im Griff behalten.
Zusätzlich wäre auch wichtig, vermehrt Teilrehabilitationen zu ermöglichen. Damit wird chronisch kranken Menschen, die keine 40 Stunden mehr arbeiten können, ermöglicht, ihre Arbeitszeit auf 20 oder 30 Stunden zu reduzieren. Für die daraus entstehende Differenz im Gehalt kommt die Sozialversicherung auf.
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