Dr. Tesar-PelzÄngste begleiten unser Leben – mit und ohne MS. Wenn sie jedoch das übliche Ausmaß übersteigen, kann sich daraus eine Angststörung entwickeln. Klinische Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Tesar-Pelz kennt die häufigen Ängste kurz nach der Diagnose. Sie erklärt, wie man diese von echten Angststörungen unterscheiden kann und wie man Angststörungen behandeln kann.  

Angst ist nicht gleich Angststörung

Gerade zu Beginn, in der Zeit rund um die Diagnosestellung, kommt es natürlich häufig zu Unsicherheiten, Ängsten und negativen Gedankenkreisen, schildert Dr. Tesar-Pelz. Sie arbeitet an der Neurologischen Abteilung der Uniklinik St. Pölten und hat so viel Erfahrung mit neu diagnostizierten MS-Betroffenen und deren Ängsten. 

„Es gibt unterschiedliche Gedanken – etwa: ‘Wie geht das jetzt weiter? Lande ich im Rollstuhl? Wie sieht es mit meiner Arbeit aus? Wie schaffe ich das mit den Kindern? Wie soll ich es den Kindern sagen?…’ Das alles sorgt für Verunsicherung. Da würde ich aber noch nicht von einer Angststörung sprechen. Denn das sind ganz normale Ängste und Angstgedanken, die hochkommen, einfach, weil die Betroffenen durch die Diagnose aus ihrem gewohnten Leben gerissen werden“, so die Psychologin. 

Häufigkeit von Angststörungen

An und für sich liegt die Häufigkeit von wirklichen Angsterkrankungen in der Gesamtbevölkerung bei 10 Prozent. Unter den MS-Betroffenen entwickeln etwa 30 Prozent eine Angststörung. Also doch eine höhere Anzahl, was wohl mit der Krankheit selbst zusammenhängt und mit ihrem zum Teil unvorhersehbaren Verlauf, erklärt die Psychologin.

In ihrem Umfeld scheint an der Häufigkeit von Angststörungen auch die COVID-19-Situation nichts geändert zu haben, schildert die Psychologin. „Wir haben auf der neurologischen Abteilung im Spital und auf der psychologischen Beratungsstelle zum Glück dadurch keinen wirklichen Anstieg von Angststörungen bei MS-Betroffenen verzeichnet. Denn die vielen Fragen und Sorgen wie beispielsweise: ‘Was bedeutet das für mich mit meiner Immunerkrankung? Darf ich noch meine Familie und Freunde treffen?’ haben sich mittlerweile eingespielt“, so die Expertin. Auch wenn Angststörungen nach außen hin oft weniger sichtbar sind und so zu den Hidden MS-Symptomen zählen, ist es wichtig, Anzeichen ernst zu nehmen.

Mögliche Auslöser

Die Psychologin weiß aus ihrer Erfahrung, dass einerseits die Zeit der Diagnosestellung als labile Phase gilt, in der es zur Entwicklung einer Angststörung kommen kann. Dabei spielen Zukunftsängste und die Ungewissheit des Verlaufs der MS eine besondere Rolle. Später ist dann andererseits das Auftreten zusätzlicher Probleme im Umfeld der Betroffenen ein häufiger Auslöser. Das können beispielsweise Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Eheprobleme oder finanzielle Sorgen sein. 

Mögliche Anzeichen und Symptome

Von Angststörungen kann man eigentlich erst dann sprechen, wenn die Ängste so stark werden, dass die Gedanken sich ständig um dieses Thema drehen, erklärt Dr. Tesar-Pelz weiter. „Also wenn dieses Gedankenkreisen gar nicht mehr aufhört und auch in die Nacht getragen wird. Davon sind die ersten Ängste und Unsicherheiten nach der Diagnosestellung klar zu unterscheiden. Denn diese zu haben, ist eine ganz normale Reaktion und absolut verständlich.“ 

Angehörige bemerken oft eine erhöhte Reizbarkeit oder Zurückgezogenheit bei den Betroffenen einer Angststörung. „Weiters stellen sich häufig Schlafstörungen ein. Wenn dann noch vegetative Symptome wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Enge in der Brust oder Druckgefühl hinzukommen, dann sind das schon eindeutige Zeichen. Oder auch, wenn die Angst so viel Platz einnimmt und man so gefangen genommen ist, dass man sich kaum noch auf irgendetwas konzentrieren kann – weder auf die Familie noch auf irgendwelche anderen Bereiche. Dann wäre es wirklich wichtig, professionelle Hilfe aufzusuchen“, rät die Psychologin. 

Checkliste: Hinweise auf eine mögliche Angststörung

  • Die Ängste und Sorgen nehmen überhand, sodass sich alles darum dreht 
  • Die Ängste beeinflussen den normalen Alltag
  • Schlafstörungen
  • Übermäßiges Schwitzen und Schweißausbrüche
  • Herzrasen
  • Druckgefühl oder Enge in der Brust 
  • Gereiztheit
  • Zurückgezogenheit

Angststörungen frühzeitig erkennen und behandeln

„Bereits nach der Diagnose im Krankenhaus haben wir ein Auge darauf, wie es den Betroffenen geht und bieten das freiwillige Gespräch mit einem Klinischen Psychologen oder einer Klinischen Psychologin an“, erzählt die Expertin aus ihrem Arbeitsalltag. Um Angststörungen bestmöglich vorzubeugen, ist es auf jeden Fall empfehlenswert, dieses psychologische Angebot kurz nach der Diagnose anzunehmen.

Aber auch bei den regelmäßigen neurologischen Kontrollen werden mögliche Unsicherheiten und Ängste regelmäßig angesprochen. „Welche gibt es jetzt gerade und auf welche Bereiche beziehen sich die Gedanken? Beispielsweise mehr auf den Arbeitsplatz oder auf den Energiehaushalt und wie man sein Leben meistern soll? In diesem Zusammenhang bieten wir dann immer wieder psychologische Unterstützung an. Die behandelnden Ärzte sind darauf sensibilisiert und sehen, ob einfach nur Redebedarf besteht oder eine Therapieunterstützung erforderlich wird. Daher merken wir schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, ob jemand die Diagnose einer Angststörung entwickeln könnte“, betont Dr. Tesar-Pelz.  

An wen man sich wenden kann

Wer bei sich selbst mögliche Anzeichen einer Angststörung feststellt (siehe oben), für den ist der erste Ansprechpartner der Vertrauensarzt oder die Vertrauensärztin, so Dr. Tesar-Pelz. „Liegt eine echte Angststörung vor, dann wird eine weitere Behandlung bei einem Psychologen oder einer Psychologin, einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin dringend empfohlen.“

Dauer der Therapie

Die Expertin betont, dass das natürlich immer vom Ausmaß der Angststörung abhängt. Daher ist es von Vorteil, diese frühzeitig zu erkennen und rasch Hilfe in Anspruch zu nehmen. 

Die Gute Nachricht: „Im Grunde kann man Ängste relativ gut bearbeiten und auch bald zu einer Abminderung oder Auflösung bringen. Wenn es sich um leichtere Ängste handelt, die nur auf die Krankheit bezogen sind, dann reichen oft schon 3 Sitzungen. Wenn die Störung bereits stärker ausgebildet ist und mehrere Lebensbereiche betrifft, dann sind meist 15-20 Sitzungen erforderlich, bis die Betroffenen wieder gut mit ihren Ängsten umgehen können“, so die Erfahrung von Dr. Tesar-Pelz. Die wiedergewonnene Lebensqualität ist es eindeutig wert! 

Fazit: Der abschließende Rat der Expertin 

Professionelle Hilfe aktiv suchen

Bitte scheuen Sie sich nicht, selbst psychologische oder psychotherapeutische Hilfe aufzusuchen oder mit Ihrem Vertrauensarzt/Ihrer Vertrauensärztin über Ängste und Probleme zu sprechen. 

Schwäche? Stärke! 

Halten Sie sich nicht für schwach, wenn Sie merken, dass Sie etwas nicht mehr selbst bewältigen können. Das darf absolut sein und zeugt vielmehr von Stärke, sich das auch offen einzugestehen.  

Baldige Besserung in Sicht!

Professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen bedeutet nicht, dass Sie jahrelang Therapien machen müssen. Oft reichen schon 3-6 Sitzungen, in denen Sie die Dinge mit einem Experten bearbeiten und gute Tipps bekommen. Dann können Sie Ihr Leben wieder besser ordnen und das Ruder selbst in die Hand nehmen. 

Im nächsten Artikel gibt die Klinische Psychologin 8 Tipps dazu, wie Sie durch Selbstfürsorge und Coping besser mit der MS umgehen und Ängsten entgegenwirken können.

M-AT-00002304| Titelbild: ©Wayhome Studio/Adobe Stock

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