Wer von MS betroffen ist, für den ist Progression, das Voranschreiten der Erkrankung, ein zentrales Thema. Doch wie kann der Krankheitsverlauf dabei gut kontrolliert werden? In diesem Artikel erfahren Sie von Dr. Hauer, Neurologin des MS–Zentrums Melk, mehr über Progression und was es besonders bei den stillen Veränderungen unabhängig von Schüben (Hidden Progression) zu beachten gilt.
Was Progression bei MS bedeutet
Unter Progression versteht man das Voranschreiten der MS und damit die Schädigung der Nerven mit den einhergehenden Beeinträchtigungen. Das kann einerseits in Schüben, aber sehr häufig auch still stattfinden.
Arten von Progression
Hinsichtlich ihres Auftretens werden daher zwei Arten von Progression unterschieden.
- Schubabhängige Progression (Relapse-Associated Worsending / RAW)
Bei der schubbedingten Verschlechterung bilden sich die Symptome nach einem Schub nicht vollständig zurück, sie verschlechtern sich dauerhaft. Entsprechend dem Auftreten der Schübe findet die Progression sprunghaft statt. Auch bei schubförmigen Verläufen der MS kann gleichzeitig eine stille Verschlechterung (Hidden Progression) stattfinden.
- Schubunabhängige Progression (Progression Independent of Relapse Activity / PIRA)
Hier kommt es zu einem schleichenden oder stillen Fortschreiten der MS, also zu einer dauerhaften Verschlechterung ohne Schübe. Das bedeutet also, dass die MS auch ohne merkliche Schübe dauerhaft fortschreiten kann.
Deshalb geht es nicht nur darum, die Anzahl der Schübe zu verringern. Vielmehr zielt die moderne MS-Therapie darauf ab, die Krankheitsaktivität möglichst vollständig zu unterdrücken und die Progression der MS dadurch zu bremsen. Verschiedene Perspektiven und Ziele rund um das Thema Therapie bei MS erfahren Sie auch in diesem Artikel.
Mögliche Hinweise auf eine Progression der MS
Im Interview beschreibt Dr. Hauer folgende Anzeichen, die häufig auf eine beginnende Progression hinweisen. Diese können eine eventuelle Anpassung der jeweiligen Therapie des Betroffenen erforderlich machen.
- Langjähriges Bestehen der MS-Erkrankung
„Als Ärztin denke ich besonders dann an die Progression, wenn der Patient die Grunderkrankung schon länger hat, denn die Daten zeigen, dass circa 75 % der Betroffenen nach 10 bis 15 Jahren, besonders bei einer unbehandelten Multiplen Sklerose, in die sekundär chronisch progrediente Phase übergehen. Wir sehen im klinischen Alltag, dass sich das dank der Behandlungen verzögert. Der Übergang in das progrediente Stadium tritt dadurch Gott sei Dank nicht mehr so früh ein, wie früher.“
- Keine Schubaktivität mehr
„Ein weiterer Hinweis, für eine mögliche Progression der MS ist, wenn Patienten aufhören, eine gewisse Schubaktivität zu haben. Also wenn beispielsweise jemand die letzten fünf Jahre keinen Schub hatte, sich der Zustand aber trotzdem klinisch verschlechtert, erklärt Dr. Hauer.“
- Verstärkte Hidden MS-Symptome
„Häufig verstärken sich Symptome wie Inkontinenz, Sexual-Funktionsstörungen oder es zeigen sich gewisse Wegeinschränkungen. Auch kognitiv bemerken viele dann Einschränkungen. Das sind typische Hinweise, wo ich als Neurologin gezielt nachfrage und manchmal ein bisschen nachbohren muss, damit Betroffene über solche Symptome reden. Denn teilweise werden sie nicht gerne angesprochen oder in der knappen Zeit des Arztgespräches einfach vergessen. Da nur lapidar zu sagen, ’seit der letzten Kontrolle war eh kein Schub, da gibt es also nichts Neues‘ – das wäre oft zu wenig, betont die Expertin.“
Verlaufskontrollen und Monitoring
Damit man diese Symptome und eine eventuelle Progression möglichst früh erkennen und mit einer Therapieanpassung gegensteuern kann, sind Verlaufskontrollen und ein entsprechend engmaschiges Monitoring das um und auf. „Die klinische Untersuchung (der Neurostatus) gibt sehr viele Hinweise, ob sich beispielsweise der Muskeltonus (Muskelspannung) verändert hat oder eine Spastik dazugekommen ist. Deswegen ist es so wichtig, den Patienten bei der Untersuchung auch anzugreifen. Und das schafft man eben nicht über Videokonferenzen, sondern nur bei einem reellen Termin in der Ordination“, schildert die Expertin aus der Praxis.
Die Neurologin erklärt weiter, dass in gewissen Abständen durchgeführte MRT-Untersuchungen helfen, eine subklinische Aktivität abgrenzen zu können. „Zeigt sich dabei, dass der Patient über die Jahre vergleichsweise mehr Hirnvolumen als ein Gesunder verliert, spricht man von Atrophie. Auch das kann oft ein Hinweis für den Übergang in die sekundäre, chronisch progrediente Phase der MS sein.“
Der Beginn der sekundär chronisch progredienten Phase – eine Grauzone
Dr. Hauer betont, dass diese alte Einteilung und die strikte Trennung der Phasen jedoch immer mehr in den Hintergrund gerät. Denn die Grenzen sind verschwommen. So gibt es beispielsweise auch Betroffene, die zwar sekundär chronisch progredient sind, aber auch aufgesetzte Schübe haben. In diesem Video-Interview erfahren Sie mehr zu den Verlaufsformen bei MS.
„Es gibt nicht ‘den Zeitpunkt’ wo ich sagen kann, jetzt sind Sie sekundär chronisch progredient, sondern ich sage dann, ich glaube, dass Sie jetzt eher in diese Phase kommen, weil dieses oder jenes darauf hindeutet. Für MS-Betroffene ist das noch immer ein großes Schreckgespenst, weil es bisher für diese Phase keine Therapie gab. Dank neuartiger Medikamente haben behandelnde Ärzte heutzutage auch hier bereits bessere Möglichkeiten, Patienten zu unterstützen“, so die Neurologin.
Positive abschließende Worte der Expertin
„Es hat sich vielleicht noch nicht ganz herumgesprochen, aber:
- Die Zeiten alternder MS-Patienten, für die es einfach keine Therapie mehr gegeben hat, die sind Gott sei Dank vorbei!
- Es wird inzwischen deutlich mehr Aufmerksamkeit auf ältere Betroffene gelegt und wir freuen uns natürlich, auch für diese Gruppe Möglichkeiten zu haben, den Verlauf zu verzögern.
- Auch wenn man vielleicht bereits eine Gehbehinderung hat, lohnt es sich absolut zumindest einmal jährlich beim Arzt oder der Ärztin des Vertrauens nachzufragen, ob es neue Möglichkeiten gibt. Denn es tut sich wirklich viel, die ganze Therapiebreite ist momentan sehr im Fluss.
- Zusätzlich können symptomatische Therapien helfen, einzelne Symptome zu lindern. Sei es für eine Blasenfunktionsstörung, für eine Spastik oder einfach eine Hilfsmittelversorgung bei einer Fußheberschwäche (Fußheberparese). Oft erleichtert schon das den Alltag wieder etwas“, macht Dr. Hauer Mut.
Also gehen Sie zu den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, bleiben Sie dran, es gibt inzwischen für jede Phase der MS Möglichkeiten, die eine Erleichterung bewirken können. Dank moderner Therapien und der Forschung werden es laufend mehr.
Im zweiten Teil des Artikels spricht Dr. Hauer über klinische Funktionstests und gibt praktische Tipps, woran Sie, gemeinsam mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin, erkennen können, ob Sie gut eingestellt sind.
Teil drei der Serie ‘Kognition’ beinhaltet zwei einfache Tests, die Sie zu Hause selbst regelmäßig durchführen können. Außerdem gibt Dr. Hauer hilfreiche Tipps, woran Sie ein Voranschreiten der MS auch im Alltag bemerken können. So sammeln Sie gleichzeitig wertvolle, konkrete Informationen für den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin.
Quellen:
Trotz MS: Progression bei MS stoppen
Deutsche MS Gesellschaft: Multiple Sklerose, was ist das?
Netdoktor: Multiple Sklerose – Verlauf
Apotheken Umschau: Die wichtigsten Fragen zu Multipler Sklerose
M-AT-00002755| Titelbild: © DDRockstar/Adobe Stock